Es ist seit Jahren Gegenstand von Diskussionen, ob es im Bewerbungsprozess noch ein Motivationsschreiben braucht oder nicht. Bei der SBB lautet die Antwort ganz deutlich nein, denn seit 2019 wird in allen Stelleninseraten der Bundesbahnen erwähnt, dass kein Motivationsschreiben mehr nötig ist. Ein Interview mit Leila Claivaz, Lead Link für die Rekrutierung bei der SBB in der Westschweiz.
Mathias Steger: Warum haben Sie sich dazu entschieden, kein Bewerbungsschreiben mehr zu verlangen?
Leila Claivaz: Die Candidate Experience ist für uns eine Priorität und daher wollten wir bei der SBB den Bewerbungsprozess vereinfachen. Wir haben uns verschiedene Studien angesehen und festgestellt, dass das Motivationsschreiben nie ein wirkliches Kriterium in der Rekrutierung war, um mehr über Kompetenzen und die Persönlichkeit der Kandidatinnen und Kandidaten zu erfahren.
Gilt das für die Stelleninserate aller Berufe und Regionen der Schweiz?
Ja, das gilt ausnahmslos für alle unsere Stelleninserate und für alle Regionen der Schweiz. Unsere Abteilung Sourcing, Recruiting & Talents erarbeitet Prozesse für die gesamte Schweiz, die sowohl in der Deutschschweiz als auch in der Westschweiz und im Tessin zum Tragen kommen.
Wir haben uns verschiedene Studien angesehen und festgestellt, dass das Motivationsschreiben nie ein wirkliches Kriterium in der Rekrutierung war, um mehr über Kompetenzen und die Persönlichkeit der Kandidatinnen und Kandidaten zu erfahren.
Was sind die Vorteile einer Bewerbung ohne Anschreiben?
Die Vorteile sind, dass der Bewerbungsprozess für die Bewerbenden einfacher wird und die Motivation nicht mehr in einem schriftlichen Dokument, sondern bei einem direkten Austausch evaluiert wird.
Sehen Sie auch Nachteile oder Risiken?
Wir müssen in der Vorauswahl noch vorsichtiger sein und den Kandidatinnen und Kandidaten bestimmte Fragen stellen, um Sachen herauszufinden, die sonst vielfach im Motivationsschreiben angeben werden, wie Verfügbarkeit oder Arbeitspensum. Dabei arbeiten wir mit innovativen Methoden wie obligatorischen Fragen beim Ausfüllen des Bewerbungsformulars über das Bewerbertool oder Videofragen, auf welche die Kandidatinnen und Kandidaten antworten können.
Bedeutet das, dass der Lebenslauf noch wichtiger wird?
Der Lebenslauf bleibt weiterhin die Visitenkarte für die Jobsuchenden und hat nun eine noch grössere Bedeutung. Die Verantwortlichen im Rekrutierungsprozess schauen immer vor allem auf den CV. Für uns ist jedoch das persönliche Zusammentreffen mit den Bewerbenden das Wichtigste, weil wir sie nur so richtig kennenlernen können.
Wie können Sie sich ohne Motivationsschreiben ein Bild über die Motivation der Bewerbenden machen?
Wir glauben, dass alle, die sich bei der SBB bewerben, auch motiviert sind, bei uns zu arbeiten. Andere spezifische Motivationen betreffend der Stelle, den Chef oder das Team können erst nach einem direkten Austausch und nicht über das Motivationsschreiben beurteilt werden.
Wie viele Personen senden Ihnen nach wie vor ein Motivationsschreiben?
Bei der Einführung dieses vereinfachten Prozesses im Oktober 2019 erhielten wir etwa die Hälfte der Bewerbungen mit Motivationsschreiben. Seither sinkt diese Zahl ständig.
Für uns ist jedoch das persönliche Zusammentreffen mit den Bewerbenden das Wichtigste, weil wir sie nur so richtig kennenlernen können.
Erhalten Sie auch Bilder oder andere Dokumente, welche die Motivation der Kandidatinnen und Kandidaten zum Ausdruck bringen?
Ja, wir erhalten von den Kandidatinnen und Kandidaten immer wieder Videos oder Bilder, vor allem bei Stellen, bei denen Kreativität erwartet wird. Dabei werden wir oft über die aussergewöhnlich gute Qualität dieser Dokumente überrascht.
Sind Sie der Meinung, dass auch andere Unternehmen diesen Weg gehen sollten und welchen Tipp würden Sie diesen dann geben?
Ich glaube, dass dieser Weg für alle Unternehmen in Frage kommen sollte, die an ihrem Image als Arbeitgeber arbeiten möchten. Wichtig dabei ist jedoch, ein besonderes Augenmerk auf die Kommunikation und die Argumentation – sowohl intern als auch extern – zu richten.
Leila Claivaz ist seit April 2018 für die SBB tätig und dort als Lead Link für die Rekrutierung in der Schweiz mit acht Mitarbeitenden zuständig. Sie startete ihre Karriere 2007 als Headhunterin und war danach für HR-Teams in der Uhrenindustrie verantwortlich. In der Abteilung SRT (Sourcing, Recruiting & Talents), die nach dem Holacracy-Prinzip funktioniert, übernimmt sie auch die Rolle als Sourcerin und Diversity Champion für die gesamte Schweiz.