Doris Dinkel und der Kreis, der sich schliesst

Doris freute sich, denn es war Freitag und das bedeutete Home Office. Nach einem gemütlichen Frühstück fand sie sich an ihrem Schreibtisch ein und öffnete Talior, das Finanzprogramm. Als das Programm hochgefahren war und Doris sich mit ihrem Geschäftslaptop angemeldet hatte, klingelte es an der Türe.
„Manchmal verfluche ich dieses Home Office, im Büro gibt es wenigstens keine nervige Klingel“, brummte sie vor sich hin und stapfte zur Türe. Als sie öffnete, hatte sie ein Déjà-vu: Genau wie 14 Monate zuvor stand da ein junger Mann mit einem prächtigen Blumenstrauss mit vielen blauen Blumen. Sie bedankte sich und suchte nach der Karte.
Doris Dinkel und der Kreis, der sich schliesst

Liebe Doris
Es ist ja nun schon Usus bei uns, dass wir dir gute Neuigkeiten mittels Blumenstrauss überbringen – und wir sehen keinen Grund, diese altbewährte Tradition zu ändern.
Wir freuen uns, dir eine Beförderung zur stellvertretenden Abteilungsleiterin der Finanzabteilung anzubieten. Bisher hatte Sonja diese Position inne, jedoch möchte sie kürzer treten und auf ein 40 prozentiges Pensum reduzieren. Sonja bleibt im Team und ist jederzeit bereit, dich bei deinen neuen Aufgaben zu unterstützen.
Am Montag um 08:00 Uhr erwarten wir, Sonja und ich, dich in meinem Büro, damit wir besprechen können, wie es weiter geht.
Liebe Grüsse Alina

Eine Jobzusage im Blumenstrauss: Nun war das Déjà-vu komplett. Und eine Beförderung zur stellvertretenden Leiterin nach bloss 14 Monaten? Doris dachte zurück an ihre mitunter holprigen Anfänge bei der Bentex. Hätte ihr damals jemand vorausgesagt, dass sie nach 14 Monaten bereits eine leitende Position innehaben würde, hätte sie laut losgelacht. Aufgeregt tippte sie eine Nummer in ihr Handy. „Jonas, ich hab wieder Blumen bekommen“, berichtete sie ihrem Mann.
Nach einem beschwingten Wochenende erschien Doris am Montag pünktlich zu ihrem Termin mit Alina und Sonja. „Guten Morgen“, begrüsste sie ihre Noch-Chefinnen und setzte sich hin. „Also, was meinst du, Doris? Sagst du zu?“, fragte Alina, wie immer ohne Umschweife. „Ja und wie“, strahlte Doris begeistert. Die Frauen besiegelten ihre Abmachung mit einem Handschlag. Nachdem sie gemeinsam den neuen Vertrag und die zeitlichen Abläufe durchgegangen waren, meldete sich Sonja zu Wort: „Also Doris, dann hab ich schon eine erste Aufgabe für dich.“ „Aha, jetzt wo ich nicht mehr zurück kann, kommt die Keule“, scherzte Doris aufgedreht. „Keine Sorge, nichts Schlimmes“, gab Sonja zurück und fuhr fort, „wir brauchen noch einen neuen Mitarbeitenden, der meine fehlenden 60 Prozent abdeckt. Das Inserat habe ich schon geschaltet, jedoch dachte ich, dass es sinnvoll wäre, wenn du gleich die Bewerbungsgespräche übernehmen würdest, da du ja schliesslich als Leiterin auch die Einarbeitung übernehmen würdest. Bei dir hatte Alina die Bewerbungsgespräche geführt, aber wir haben gedacht, dass du das genauso gut kannst.“ Doris nickte und schmunzelte: „Nach meinem Bewerbungsmarathon sollte ich sowieso gleich ins HR wechseln.“
Bereits zwei Tage später führte Doris das erste Interview. Der Bewerber hiess Ajit Budjurindi, war 38-jährig, verheiratet und hatte zwei Kinder. Doris erinnerte sich noch zu gut an ihre eigenen Bewerbungseskapaden. Sie schwelgte in Erinnerungen an Doktor Jolanda mit ihrer Röntgenstrahlenattacke. Mittlerweile gehörte der Doktor-Jolanda-Vorfall zu den witzigen Geschichten, aber damals fand sie es gar nicht lustig. So wie diese Person würde Doris ihr Gespräch bestimmt nicht führen. Dann wollte sie sich schon eher an dem gutaussehenden Thomas Mosbacher ein Vorbild nehmen. Diesen hatte sie nicht nur wegen seiner tollen Haare in positiver Erinnerung behalten. Mit seinem virtuellen Firmenrundgang und seinem Kartenspiel im Bewerbungsgespräch hatte er Doris vollends begeistert. Aber auch Alina kam in Doris‘ Gedanken an ihre Bewerbungskarriere nicht zu kurz. Sie hatte damals ohne Spielkarten oder Meerkat-Rundgang einen wirklich gelungenen Auftritt hingelegt. Trotzdem hatte Doris das Kartenspiel von Thomas Mosbacher gleich online bestellt, als sie erfahren hatte, dass Bewerbungsgespräche anstehen – es hatte ihr einfach zu viel Spass gemacht, als dass sie sich dies hätte entgehen lassen können.
Ajit Budjurindi war beeindruckend: fliessend in fünf Sprachen, einen Hochschulabschluss in Volkswirtschaft und einen echt guten Humor. Doris hätte ihm am liebsten gleich zugesagt. Aber ihre erste Amtshandlung als Chefin sollte geplant und überlegt sein – nicht impulsiv und überhastet. Darum sagte sie Ajit ehrlich, dass noch drei weitere Bewerber zu Gesprächen eingeladen waren und dass sie sich danach entscheiden würde.
Nach den drei weiteren Gesprächen hatte Doris ihre Meinung nicht geändert. Ajit war der Auserwählte und erhielt eine grosse Packung Schokolade von Doris – natürlich an die Haustüre geliefert. Sie konnte den Bewerbungsprozess nun aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten. In den Wochen vor Ajits Antritt räumte Doris so richtig auf. Sie delegierte und optimierte und vor allem plante sie, um optimal auf ihren neuen Schützling vorbereitet zu sein. Sie wollte nicht wie Sonja damals vor die Wahl gestellt werden, den eigenen Job zu erledigen oder der „Neuen“ zu helfen. Ist ja klar, was auf der Strecke bleibt. Ihr Ziel war es, Ajit einen optimalen Einstieg in die Finanzabteilung zu ermöglichen, damit dieser den Zahlenhimmel gar nicht mehr verlassen wollte.
Schliesslich kam der Tag, an dem Ajit bei der Bentex anfangen sollte. Doris war aufgeregt. Hatte sie an alles gedacht? War alles gut vorbereitet? Sie blickte sich um, sah einen ordentlichen Arbeitsplatz, einen neu aufgesetzten Laptop und sogar ein kleines Geschenk auf der Tastatur. „Ja, es ist alles perfekt“, dachte sie und verliess frohen Mutes das Büro. „So schliesst sich der Kreis“, dachte Doris, als sie am Empfang auf ihren neuen Mitarbeitenden wartete.
Die zahlreichen Erfahrungen als Bewerberin und neue Mitarbeitende helfen Doris, sich in die Rolle der Bewerberin oder der „Neuen“ zu versetzen. Dieser Blickwinkel ermöglicht es ihr, die Bedürfnisse und die möglichen Stolpersteine des neuen Mitarbeitenden besser voraussehen zu können. So kann sie sich schon im Vorfeld auf ihre Rolle als Patin vorbereiten und adäquat auf die Bedürfnisse ihres neuen Mitarbeitenden reagieren.
Nun, wo sich der Kreis geschlossen hat, endet auch die Geschichte von Doris Dinkel. Ein „sie lebte glücklich bis an ihr Ende“ erwartet niemand – das wäre auch viel zu langweilig für Doris. Jedoch bleibt sie der Bentex trotz allem treu. Vorerst. Und vielleicht haben Sie ja eure Doris in eurer Firma ja auch schon erkannt. Falls ja, schenken Sie ihr doch einen Blumenstrauss mit dem Link zu dieser Serie. Es wird sie freuen.

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