Stellen wir uns vor, es wäre Arbeit, aber keiner geht hin. Wir befinden uns in Grossbritannien nach dem Brexit. Mitarbeitende hätten gekündigt, Fachkräfte wären abgewandert und Spezialisten würden erfolglos gesucht. Aber wo sind sie hin? Haben sich tatsächlich so viele Briten an ihre ausländischen Wurzeln erinnert und eine zweite Staatsbürgerschaft erlangt? Oder haben sie ihre Karriere in der Schweiz, einem Land mit Fachkräftemangel, in dem Spezialisten aus IT mit Handkuss angestellt werden, fortgeführt? Ein Essay.
Vorzug von britischen Fachkräften?
Nehmen wir mal an, dass das Vereinigte Königreich wirklich aus der EU austritt. Diese Abschottung von Europa würde britische Fachkräfte stark in der Bewegungsfreiheit einschränken. Sie würden nach attraktiven Alternativen in Europa suchen – und da ist die Schweiz ganz vorne mit dabei. Als einer der grössten Bankenplätze weltweit könnte dann vor allem in FinTech-Bereichen, also der Finanztechnologie, ein Überangebot von Spezialisten herrschen. Obwohl wir in der Schweiz eine gute Balance zwischen Angebot und Nachfrage, ja teilweise sogar ein Fachkräftemangel beklagen, würde dieses Überangebot den Wettbewerb massiv verstärken. Die Herausforderung dabei wäre, dass die Bewerbungen von gut ausgebildeten Schweizer Fachkräften nicht auf der Strecke bleiben, weil die Stellen mit günstigeren Fachkräften aus der UK besetzt würden.
Expats in der Zwickmühle
Eine weitere Schwierigkeit, bei einer Abkopplung von der EU, wird der Austausch von Mitarbeitenden aus Schweizer Firmen, den Schweizer Expats, in das Vereinigte Königreich. Visa müssten beantragt und Bewilligungen eingeholt werden. Dieses Hindernis würde den Erfahrungstransfer in Unternehmen und die Entwicklung der Unternehmenskultur stark beeinflussen, da aufgrund der verschärften Einreisebedingungen beispielsweise Schulungen oder Geschäftstreffen erschwert würden.
Dasselbe gilt natürlich auch für die Expats aus Grossbritannien, die in einer Geschäftsstelle in der Schweiz arbeiten. Die problemlose Einreise in die Schweiz, die durch das Freizügigkeitsabkommen in Stein gemeisselt ist, wäre in Zukunft nicht mehr möglich. Auch hier bräuchte es schlimmstenfalls eine Regelung per Visum für die Arbeitserlaubnisse und Aufenthaltsbewilligungen. Mit dieser bürokratischen Hürde würde auch der interne und externe Know-how-Transfer verkompliziert.
Standortvorteil Schweiz als Chance für englische Firmen
Eine echte Chance wäre, dass englische Unternehmen ihren Hauptsitz direkt in die Schweiz verlegen. Die Schweiz ist für England sehr interessant, da sie bilaterale Verträge mit der EU besitzt und dennoch nicht EU-Mitglied ist. Vor allem Branchen wie FinTech sind auf die internationale Vernetzung angewiesen, damit sie sich schnell weiterentwickeln können. Das ist entscheidend für Grossbritannien, wo allein in den ersten neun Monaten des letzten Jahres über 554 Millionen Dollar in diesen Bereich investiert wurden und man London bezüglich Investitionen im FinTech-Bereich zum Europameister krönte. In der Schweiz waren es knapp 185 Millionen Dollar Investitionskapital. Durch diesen Zuzug von britischen Firmen kann das Wissen und die Erfahrung der Arbeitskräfte in den Wirtschaftsstandort Schweiz transferiert werden.
Bankensektor mit FinTech stärken
Interessant wäre diese Entwicklung nicht nur für den Fiskus, sondern auch für die Stärkung des FinTech-Bereichs im internationalen Bankenstandort Schweiz – so könnten Synergien genutzt und neue Märkte erschlossen werden. Und mit der stärkeren FinTech-Konzentration könnten umso mehr Innovationen realisiert, neue erfolgsversprechende Geschäftsideen weiterentwickelt und digitale Trends gesetzt werden. Dies wäre wiederum interessant für Investoren, die ihr Kapital in der Schweiz einsetzen und so neue Arbeitsplätze schaffen.
Jobsuche in der Schweiz schwierig als nicht EU-Land
Falls Grossbritannien kein spezielles Abkommen mit der Schweiz aushandelt, wird das Land bei einem Ausstieg aus der EU ein EU-Drittstaat, und kann deshalb nicht mehr die Vorteile der Personenfreizügigkeit geniessen. Für die Briten würde es schwierig werden, eine Arbeitsstelle in der Schweiz zu bekommen, nicht zuletzt aufgrund der Auswirkungen der Masseneinwanderungsinitiative. Gemäss dem Staatssekretariat für Migration erhält man als Bürger eines Drittlandes erst eine Chance auf eine Anstellung, wenn es keine Schweizer oder EU/EFTA-Bewerber auf die Stelle gibt und die Arbeitgeber den Nachweis erbracht haben, dass sie „trotz umfassender Suchbemühungen keine geeigneten Arbeitskräfte mit Vorrang“ rekrutieren konnten. Doch Gewissheit wird man erst haben, wenn die Verhandlungen zwischen Grossbritannien und der Europäischen Union abgeschlossen sind.