Doris stand verdattert auf dem Kiesplatz, gemeinsam mit Jonas und ihrer Arbeitskollegin Sonja, als plötzlich die Stimme Peter Bentelsons, des Eigentümers der Bentex, über den Platz schallte: „Herzlich willkommen zu unserem Firmenausflug, meine Lieben! Noch bevor ich euch verrate, was wir heute alles erleben werden, möchte ich mich ganz herzlich bei den Mitarbeitenden der Produktion und dem Vertrieb bedanken. Ihr habt in den letzten Wochen Vollgas gegeben, damit wir heute für einen Tag die Produktion einstellen können. Und nun will ich euch nicht länger auf die Folter spannen. Hier steht eine Kiste mit verschiedenen Kostümen, von denen sich bitte jeder eines aussucht.“ Doris fand ein wunderschönes, lilafarbenes Ballkleid. Ein Namenskärtchen hing daran: «Die Comtesse». Bevor Doris nachfragen konnte, warum sie diese Kleider anziehen sollten, stand Herr Bentelson bereits wieder auf seinem Schemel. „Wir machen heute einen Krimitag. Jeder hat eine Rolle und spielt diese den ganzen Tag. Dafür gebe ich euch diesen Rollenbeschrieb mit. Um es vorab zu erwähnen: Es ist ein Mord passiert. Der bedauerliche Lord von Ashterville wurde erstochen in seinem Schloss aufgefunden. Wir alle sind verdächtig und wurden deswegen zum Verhör an den Tatort, auf das prächtige Schloss Hohenstein, bestellt. Es wird aber auch vergnüglich, denn wir bekommen eine Schlossführung mit anschliessender Besichtigung der schlosseigenen Schnapsbrennerei. Natürlich mit Degustation. Am Abend gibt es ein Dinner im Schloss. Über den ganzen Tag verteilt werdet ihr Hinweise finden, die uns bis zum Ende des Abends dann hoffentlich zum Mörder führen. Ich wünsche euch viel Spass und begebe mich nun in die Dienste der ehrenwerten Lady Winifried, auch bekannt als unsere Buchhalterin Sonja, denn ich bin heute George, der persönliche Kammerdiener der Lady.“ Peter Bentelson alias George der Kammerdiener griff sich ein silbernes Tablett und steuerte auf die kleine Gruppe um Sonja und Doris zu. „Lady Winifried, zu ihren Diensten“, sagte er und verneigte sich tief. Sonja, Doris und Jonas konnten sich nicht zurückhalten und prusteten los.
Die drei altertümlich gekleideten Männer vor dem Schloss entpuppten sich als Schlossführer. Die Belegschaft der Bentex verteilte sich auf die drei und jede Gruppe startete ihren Rundgang an einem anderen Ort. Doris war mit ihrem Mann Jonas in einer Gruppe. Ansonsten kannte sie nur Tanja, die Empfangsdame. Die anderen Gruppenmitglieder waren aus verschiedenen Abteilungen und es waren auch Mitarbeitende aus der Produktion und dem Vertrieb dabei, die sie sonst nie zu Gesicht bekam. Auf der Hinfahrt hatte Doris nur mit Sonja und Reinhold geredet, die sie ja schon kannte. Darum war dieser Rundgang eine tolle Chance, um auch mal andere Bentexler kennen zu lernen.
Die letzte Station des lehrreichen Rundgangs war die Schnapsbrennerei hinter der Burg. Dort trafen sie auch wieder auf die anderen beiden Gruppen. Doris und Jonas hatten auf dem Rundgang Karoline und Hans kennengelernt. Er arbeitete im Vertrieb der Bentex und sie war seine Frau. Sie verstanden sich gut und Doris stellte die beiden gleich Sonja vor, als sie sich in der Brennerei wiedersahen. Sonja stellte Doris ihrerseits Ludwig vor. Ludwig war bereits über 50 Jahre alt und arbeitete schon seit 23 Jahren in der Produktion der Bentex. Hans aus dem Vertrieb begrüsste Ludwig überschwänglich, sie kannten sich bereits. „Was war denn letzten Monat wieder los bei euch“, wetterte Hans gleich nach der Begrüssung los, „wir hatten zwei Tage Verspätung, weil ihr nicht rechtzeitig fertig wart mit der Produktion.“ Ludwig setzte zum Gegenschlag an: „Du hast ja keine Ahnung, Hans! Wenn die Kabelisolationen nicht geliefert werden, können wir auch nicht pünktlich produzieren. Und nun versuch doch du mal, das dem Zulieferer zu erklären!“ Doris war baff. Von diesen Querelen hatte sie bis anhin noch nichts mitbekommen. Hans beruhigte sich wieder und sie diskutierten die Angelegenheit etwas zivilisierter aus. In diesem Moment kam einer der Schlossführer auf die kleine Gruppe zu: „Ich habe hier eine Eilmeldung für die Comtesse von Darkmore.“ Doris hob die Hand: „Das bin ich!“ Der Schlossführer drückte ihr einen versiegelten Umschlag in die Hand. Doris brach das Siegel und faltete das vergilbte Papier auseinander. „Oh, ein Hinweis“, sagte sie aufgeregt und las laut vor: „Liebe Comtesse, es tut mir sehr leid, Sie mit dieser Angelegenheit behelligen zu müssen. Aber ich könnte mir nie verzeihen, wenn ich Ihnen nicht mitteilen würde, dass ich soeben einen Erbvertrag für George, den Kammerdiener der werten Lady Winifried, aufgesetzt habe. Euer Cousin, Lord Ashterville, vererbt ihm seinen gesamten Besitz. Entschuldigen sie meine Offenheit, aber ich konnte damit nicht hinter dem Busch halten. Hochachtungsvoll, Euer Lord J. von Cuttleton.“ Doris stutzte: „Cuttleton? Der Brief ist von Reinhold! Das ist ein Mordmotiv! Wir müssen ihn dazu befragen!“ Wild entschlossen, mehr zu erfahren, machte sich die Gruppe auf die Suche nach Reinhold. Der Streit um die Kabelisolationen war unverzüglich vergessen. Sie fanden Reinhold im grossen Foyer, denn es war bereits Zeit für das Dinner. Lord Cuttleton alias Reinhold war voll in seiner Rolle. Er bereute offenbar den Anflug von Indiskretion und äusserte sich nicht weiter zum Inhalt des Briefes. Es schien, als ob er unter Druck stehen würde. Wurde er erpresst? Und der Kammerdiener, auch bekannt als Peter Bentelson, schlich wie ein Schatten um ihn herum. Während dem Essen wurden Verdächtigungen geäussert und als ein Dienstmädchen schliesslich eröffnete, dass sie ein uneheliches Kind von Cuttleton trug, brach dieser schliesslich ein. Er gestand die Affäre. Der Kammerdiener der Lady Winifried wusste davon und erpresste ihn. Deshalb fälschte er das Testament des verstorbenen Lords von Ashterville und begünstigte den erpresserischen Kammerdiener. Die Schlinge zog sich immer enger um dessen Hals und er gestand den Mord noch vor der Nachspeise.
Der Firmenausflug verkommt in vielen Betrieben zu einer lästigen Pflichtübung – oft wird aus den Augen gelassen, wozu er eigentlich da ist. Er dient einem Wir-Gefühl im Unternehmen und soll den Mitarbeitenden die Möglichkeit bieten, sich auch mal ausserhalb der fixen Rollen im Büro zu begegnen. Und es ist eine Chance für das Unternehmen, der Belegschaft die verdiente Wertschätzung zu zeigen. Auch bei der Bentex läuft nicht alles rund im Alltag, aber ein Firmenausflug kann den nötigen Freiraum bieten, um Unstimmigkeiten zu klären und mehr Verständnis untereinander zu schaffen – bei Hans und Ludwig hat das funktioniert.