„Jetzt sind wir quitt“, sagte sich Doris. Sie hatte ihren Alleingang ehrlich bereut, aber mit ihrer heldenhaften Rettung aus dem Orkan hatte sie diesen Faux-pas mehr als wettgemacht. Doch der dahergesagte Satz liess sie nicht los. War sie wirklich quitt mit der Bentex?
Es war Donnerstagmorgen und Doris war nicht überrascht, als sie sich alleine in der Finanzabteilung wiederfand. Es war nicht der Punkt, mit dem Doris zu kämpfen hatte. Nein, sie quälte sich mehr damit, dass sie langsam resignierte und sich damit abgefunden hatte, dass die ach so enge Zusammenarbeit nicht so war, wie sie sich das vorgestellt hatte. Beim Vorstellungsgespräch hatte ihr Alina vorgeschwärmt, wie agil die Finanzabteilung sei, dass sie jeden Morgen ein kurzes Meeting in der gemütlichen Sofaecke hätten, dass sie alle Fälle gemeinsam bearbeiten würden und jeder das tat, was ihm am meisten liegt. Die Vorstellung sagte Doris am Anfang zu. Aber der Gedanke, von nun an die immer gleiche Aufgabe zu erledigen, bis zu ihrer Pension, liess sie erschaudern. „Dann sterbe ich vor Langeweile“, murmelte sie vor sich hin. „So schlimm?“, fragte eine weibliche Stimme und Doris blickte erschrocken auf. Tanja, die Empfangsdame, legte gerade die Post auf Sonjas Schreibtisch. Doris spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg. Sie wollte den Satz gar nicht laut aussprechen und hatte auch nicht bemerkt, dass jemand da war. „Nein, nein, es ist alles in Ordnung. Ich war nur mit den Gedanken wo anders“, versuchte sie sich rauszureden. „Hmm, bist du sicher? Wir können auch einen Kaffee trinken und ich erzähle dir von meinen ersten Wochen, falls dich das interessiert“, bot Tanja an. Doris hatte keine Lust auf Kaffee, aber sie konnte auch nicht ablehnen. „Klar, lass uns gehen“, antwortete sie.
„… ja, so war das bei mir. Sieben Jahre ist das nun her. Unglaublich. Aber erzähl mal, wie läuft es in der Zahlenhölle?“ schloss Tanja ihre Geschichte ab. „Die Frau hat Mut“, dachte Doris. Ohne Umschweife hatte ihr Tanja vom Streit mit ihrer Vorgesetzten erzählt und wie sie diesen nach langen Wochen beilegen konnten, sodass schlussendlich beide zufrieden waren. „Bei mir ist eigentlich alles super. Sonja nimmt sich Zeit und eigentlich ist alles so, wie Alina es mir in der Bewerbungsphase erklärt hatte“, log Doris. „Wieso sagst du dann zweimal eigentlich in einem Satz?“, fragte Tanja, schob aber noch schnell ein „aber wenn du’s sagst“ nach. Sie konnte Doris ja nicht zwingen, darüber zu reden. „Ach, was soll’s“, dachte Doris. Es musste jetzt einfach mal raus. „Also eigentlich… als ich vorhin sagte, ich würde noch sterben vor Langeweile, war ich genau hier, bei Bentex“, gab Doris zu. „Was für eine Enthüllung“, prustete Tanja los. Doris stimmte ins Lachen mit ein und diese lockere Stimmung half ihr, alles auszusprechen: ihre Erwartungen nach den Bewerbungsgesprächen, ihren Alleingang und Sonjas Unmut darüber, die Jungs, die kommen und gehen, wann sie wollen, ihre glorreiche Idee für die Belege, auf die sie so stolz war – einfach alles.
„Hmm“, liess Tanja mit nachdenklicher Miene verlauten, „für mich klingt das ein bisschen so, als wärst du auch von dir selbst enttäuscht, dass es dir nicht gefällt.“ Doris traute ihren Ohren nicht: „Wie meinst du das denn?“. „Naja, zu Beginn fandest du es ja super, dass alle Fälle gemeinsam bearbeitet werden und dass jeder nur denjenigen Teilprozess bearbeitet, den er möchte. Ich meine, das wusstest du ja von Anfang an und jetzt störst du dich daran“, erklärte Tanja ihren Gedanken. Doris nickte. „Aber was soll ich denn jetzt tun? Vielleicht bin ja wirklich ich diejenige, die mit dieser „modernen“ Arbeitsweise nicht klar kommt“, fuhr Doris fort. Tanja lächelte und sagte: „Ja vielleicht. Aber ich hab dir ja erzählt, wie’s bei mir war und am Anfang musste ich halt für meine Überzeugung kämpfen. Rede mit Sonja und rede mit ihr auch über ihre Aufträge ausser Haus. Frag sie, ob du manchmal mitgehen kannst, erklär ihr einfach, wie du dich fühlst und dass du mehr Abwechslung brauchst und mehr bewirken möchtest. Du bist ja stolz auf das Ablagesystem. Erklär ihr, dass du mehr solche Erlebnisse brauchst.“ Doris stand auf: „Du hast recht, Danke!“. Doris fühlte sich wieder leicht und konnte die Frage endlich beantworten: Nein, ich bin nicht quitt mit der Bentex. Aber ab jetzt werde ich dafür sorgen, dass sich das ändert!
Neue Mitarbeitende merken erst mit den Erfahrungen am neuen Arbeitsplatz, worauf sie sich da wirklich eingelassen haben. Die Gespräche während der Bewerbungsphase vermitteln einen unvollständigen Eindruck des neuen Alltags. Deswegen ist es gerade in der Anfangsphase wichtig, dass die neuen Mitarbeitenden eigene Vorstellungen und Erwartungen ansprechen können. Wie Doris‘ Beispiel zeigt, ist das nicht einfach, denn neue Mitarbeitende finden sich oft in der Situation wieder, dass sie zuerst beweisen müssen wie gut sie sind, bevor sie sich erlauben, selber Ansprüche zu stellen. Aber in einem Arbeitsumfeld, in dem ein Mitarbeitender sich langweilt, kann kein Mensch seine beste Leistung abrufen. Darum lohnt es sich für beide Parteien, wenn auch der neue Mitarbeitende über seinen Schatten springt und seine Erwartungen kommuniziert.
Christoph Jordi ist Gründer und CEO von DoD!fferent und schreibt hier einmal pro Monat als Gastautor. DoD!fferent bietet agile Strategieberatung mit Fokus auf Employer Branding. Jordi doziert zudem am Schweizerischen Institut für Betriebsökonomie und führt dort den Cert. Employer Branding Expert Lehrgang durch.