Doris schwebte noch immer auf Wolke sieben. Das wunderbar authentische Bewerbungsgespräch bei der Kabelfirma Bentex war zwar schon eine Woche her, aber sie war noch immer vollends begeistert. So liess sich auch die Absage von der Kletterfirma besser verkraften, bei der sich Doris vor einigen Wochen vorgestellt hatte.
Mit einem „Piip“ riss ihr Handy sie aus ihren Gedanken. Sie hatte eine neue E-Mail bekommen. Der Absender war ein gewisser Thomas Mosbacher von der Firma Selon. Stimmt, bei denen hatte sie sich ja schon vor drei Wochen beworben. Das war doch dieser Sanitäranlagenhersteller. Neugierig begann sie zu lesen, vielleicht wurde die Bentex ja doch noch übertrumpft:
„Sehr geehrte Frau Dinkel
Herzlichen Dank für Ihre Bewerbung. Ihr Werdegang sowie Ihre persönliche Note im Motivationsschreiben haben uns sehr gefallen.
Wir haben sehr viele Bewerbungen bekommen und möchten deshalb, dass Sie und die anderen Bewerber uns besser kennenlernen können. Aus diesem Grund laden wir Sie zu einem virtuellen Rundgang in unserer Firma ein. Dazu brauchen Sie nur ein Konto auf Meerkat.“
Da stockte Doris. Was wollten die? Sie startete den Laptop und gab Meerkat bei Google ein. Sofort war ihr klar, worum es ging: eine Art Firmenrundgang über Livestream. Oder war es ein Online-Bewerbungsgespräch? Sie las weiter in der Mail:
„Unser Unternehmen ist technisch auf dem neusten Stand, deshalb wollen wir bla bla …“
Sie überflog die Einzelheiten und las den Terminvorschlag: morgen um 13 Uhr. Ja wieso nicht, das klingt doch spannend, dachte Doris und bestätigte den Meerkat-Livestream mit Thomas Mosbacher für den kommenden Tag.
Am nächsten Tag war sie schon ein bisschen nervös. Würde sie so einen authentischen Eindruck von ihrem potentiellen Arbeitsplatz bekommen? Um 10 Uhr bekam sie schon den Link für den Livestream. Kurz vor 13 Uhr klickte Doris drauf und um Punkt 13 Uhr ging es los. „Guten Tag alle miteinander, hier ist Thomas Mosbacher. Könnt ihr mich hören?“ Das Gesicht eines dunkelblonden Mannes Mitte vierzig erschien auf ihrem Bildschirm. Sie tippte auf ihr Tastatur: „Guten Tag Herr Mosbacher, ja ich verstehe sie gut.“ Währenddessen poppten schon mehrere Nachtrichten unter dem Video auf:
Jan: Yep
Janine: Ja
Roman: Verstehe super.
Doris löschte ihre Nachricht und schrieb stattdessen:
Doris: Ja verstehe
„Super“ sagte Thomas Mosbacher, „dann können wir ja gleich loslegen. Hier sind wir in meinem Büro.“ Er schwenkte seine Handy-Kamera in den Raum. „Bei uns hat jeder Mitarbeitende genau die gleichen Räumlichkeiten, also auch das freie Finanzler-Büro sieht so aus.“ Das Büro bot Platz für einen Aktenschrank, einen Schreibtisch mit zwei Besucherstühlen und hatte sogar ein Fenster.
Jan: Cool! Roman: Naja ich mag lieber offene Räume
Doris: Sehr schön!
Dann schwenkte die Kamera zur Tür und sie sah eine Hand, welche zur Türklinke griff. „So, nun sind wir auf der Galerie. Wie ihr seht, sind die Büros im Kreis angeordnet.“ Auf dem Bildschirm erschien eine offene, helle Etage, in der Mitte ein Luftkegel und rundherum eine kreisförmige Galerie, von der zahlreiche Türen abgingen. „Zwar hat jeder seine eigenen vier Wände, aber die Meisten haben ihre Türen offen, so dass man einander besuchen und Arbeiten besprechen kann. Testen wir es gleich mal aus!“ sagte Thomas Mosbacher. Er drehte die Kamera kurz zu seinem Gesicht, lächelte verschmitzt und betrat einen Raum – wie versprochen, war die Tür bereits geöffnet. „Hallo Teresa, ich bin hier mit den Bewerbern für die freie Finanzler-Stelle.“ sagte Thomas Mosbacher. Teresa lächelte etwas scheu in die Kamera. „Ok gut, soll ich jetzt einfach reden?“ fragte sie. „Ja, einfach hier in meine Selfie-Kamera schauen und ein bisschen erzählen, wie es hier so ist“, sagte Thomas Mosbacher. Teresa fixierte die Kamera und schmunzelte: „Also ich bin Teresa Kramer. Ich bin Finanzlerin bei Selon, seit nun fast fünf Jahren. Wir sind insgesamt zu siebt im Team. Unsere Büros sind alle nebeneinander, so können wir schnell etwas besprechen.“ Thomas Mosbacher schwenkte die Kamera wieder zur Türe: „Danke Teresa, wir schauen uns noch den Pausenraum an, kommst du mit?“ Teresa nickte. Auf der Galerie erzählte Teresa von der Arbeit in der Finanzabteilung und über Doris‘ Bildschirm flimmerte das moderne Innenleben des Firmengebäudes. Ab und an poppte eine Frage unterhalb des Bildes auf, die Thomas Mosbacher und Teresa Kramer im Gehen beantworteten. Schliesslich durchquerten sie einen offenen Durchgang und betraten den Pausenraum. Dort trafen sie Maja Krummenacher, die ebenfalls in der Finanzabteilung arbeitete. Nach der Besichtigung des Pausenraums war die Führung beendet und Thomas Mosbacher erklärte, wer Interesse habe, dürfe ihm gerne eine E-Mail schicken. Danach gäbe es ein Bewerbungsgespräch. Doris war überzeugt. Gleich nach dem Rundgang schrieb sie Thomas Mosbacher eine kurze E-Mail. Sie wollte das Bewerbungsgespräch.
Effizienter als mit Meerkat kann eine Firmenführung fast nicht umgesetzt werden. Kein logistischer Aufwand, alle Teilnehmenden bekommen das gleiche zu sehen und alles ist interaktiv und persönlich. Trotz dem virtuellen Aspekt bekommen die Bewerbenden einen ziemlich guten Eindruck. Aber: Der Auftritt sollte gut geplant und vorbereitet sein – denn er ist live und an einmal Gesagtem kann nichts mehr geändert werden. Als Vorstufe zu einem Bewerbungsgespräch ist es äusserst praktisch: Wenn einem Bewerber die Führung nicht gefällt, kommt er gar nicht erst ans Bewerbungsgespräch – so sparen Firma und Bewerber Zeit und Mühe.
Christoph Jordi ist Gründer und CEO von DoD!fferent und schreibt hier einmal pro Monat als Gastautor. DoD!fferent bietet agile Strategieberatung mit Fokus auf Employer Branding. Jordi doziert zudem am Schweizerischen Institut für Betriebsökonomie und führt dort den Cert. Employer Branding Expert Lehrgang durch.