Vor einem halben Jahr haben meine Kolleginnen von jobs.ch das 1000ste Frechmut-Buch auf eine Inspirationsreise geschickt. Die Idee dahinter: Das Jubiläumsbuch soll auch Andere zu frechmutigen Ideen inspirieren. Die Sommermonate nutzen wir nun, um bei den „Bestellern“ nachzufragen, ob und wie der Frechmut bei ihnen wirkt.
Gleich zum Tourstart der Inspirationsreise machen wir eine Ausnahme: Esther Niffenegger, bei welcher das Jubi-Buch als Erste Halt gemacht hat, ist keine Personalerin. Im Gegenteil könnte man fast sagen, die engagierte 34-Jährige sass im Frühjahr dieses Jahres einigen HR-Verantwortlichen und Personaldienstleistern gegenüber und hat dabei so einiges erlebt. Jetzt hält unserer Zunft also den Spiegel vor – ungeschminkt.
Wenn jemand eine Reise tut, so kann er was erzählen, wusste Matthias Claudius schon vor fast 300 Jahren. Was haben Sie auf Ihrer „Reise“ zu neuen beruflichen Ufern erlebt?
Esther Niffenegger: „Meine Erfahrungen sind sehr durchzogen. Ich habe Ende 2014 gekündigt, und war sehr optimistisch, während meiner Kündigungsfrist eine geeignete Stelle zu finden. Dem Bewerbungsprozess gegenüber war ich positiv eingestellt, da ich mir meiner Stärken bewusst bin. Ich sammelte in den letzten Jahren schon einiges an Arbeits- und Führungserfahrung, kann einen Masterabschluss in Wirtschaftswissenschaften vorweisen, bin als Offizier in der Schweizer Armee aktiv, habe ein Ehrenamt in einem bekannten Verband inne und bin aktive Netzwerkerin. In den Medien und in meinem Umfeld hörte ich oft vom Fachkräftemangel und dem Bestreben der Wirtschaft, mehr Frauen ins Management zu bringen.“
Gute Voraussetzungen für eine rasche Lösung, eigentlich.
Esther Niffenergger: „Eigentlich, ja, dachte ich mir auch. Doch viele der Unternehmen, die ich kontaktiert habe, sind dadurch aufgefallen, dass sie ihre Personalrekrutierung weder mit Frechmut noch mit Kreativität durchführen, im Gegenteil. Vom frechmutigen Weckruf von Professor Trost im Vorwort des Frechmut-Buchs („Wir benötigen im Personalmanagement dringend neue Ansätze, eine neue Denkhaltung, Mut, Frechheit, Kreativität“) noch wenig im Alltag angekommen.“
Wie äusserte sich das?
Esther Niffenegger: „Viele HR-Verantwortliche wollen vor allem eines; keine vermeintlichen Risiken eingehen! Das Bewerbungsdossier muss die Standarddokumente enthalten: Anschreiben, Lebenslauf, Arbeitszeugnisse. Auf Basis dieser Dokumente wird eine erste Beurteilung – wohl auch die einzige – vorgenommen. Danach wird der Kandidat / die Kandidatin zum Gespräch eingeladen. Dort beinhaltet die Unterhaltung dann vornehmlich Fragen zu den eingereichten Papieren. Keiner der Recruiter konnte mich zum Beispiel dadurch überraschen, dass er sich beispielsweise auf XING, LinkedIn oder Google über meine Person informiert hätte. Nach spätestens drei Fragen konnte ich jeweils feststellen, wie gut mein Gegenüber über mich informiert war. Es war enttäuschend.“
Denken Sie, dass Ihr Geschlecht oder andere Faktoren eine Rolle spielten?
Esther Niffenegger: „Ja. Ich erhielt Absagen aufgrund meines Alters. Offenbar macht einzig die Anzahl Jahre in einer Funktion die Erfahrung aus. Meine überdurchschnittliche Leistungsbereitschaft und meine Leidenschaft für den Beruf waren keine Argumente gegen die in Jahren gezählte Arbeitserfahrung. Ich erhielt aber auch Absagen aufgrund meines Geschlechts – Schwangerschaftsrisiko. Das wurde mir natürlich in den seltensten Fällen ganz direkt so gesagt, es war aber deutlich spürbar und zwischen den Zeilen nicht schwer herauszulesen. Das ist doppelt ärgerlich, weil mein Geschlecht und mein Alter ja bereits den Bewerbungsunterlagen entnommen werden konnten. Dafür hätte man mir nicht meine Zeit zu stehlen brauchen. Diese Unternehmen haben nicht begriffen, was Frechmut-Galionsfigur Barbara Artmann im Buch auf Seite 26 so wunderbar auf den Punkt bringt. „Bewerbungen sind ein Vertrauensbeweis in die Marke“. Überhaupt hat mich die Haltung dieser starken Frau sehr beeindruckt, viele Personaler könnten sich da eine Scheibe abschneiden.“
Ein gutes Stichwort – eine Scheibe von den Erfahrungen von Esther Niffenegger können wir uns alle abschneiden. Die Berner Powerfrau legt uns folgende Punkte ans Herz:
- Beweisen Sie etwas mehr Frechmut in Ihrem Arbeitgeberauftritt und generell in Ihrem Tun.
- Legen Sie die selbe Professionalität an den Tag, die Sie auch von den Kandidaten einfordern und nutzen Sie die sozialen Medien zur Vorbereitung auf Ihre Kandidaten.
- Setzen Sie sich tatsächlich mit den Kandidaten auseinander – und ziehen Sie nicht nur die Anzahl Berufsjahre in Betracht.
- Betrachten Sie die Geschlechterfrage neutral und beschäftigen Sie sich stattdessen mit dem Menschen.
- Vermeiden Sie es, bei den Kandidaten den Eindruck zu hinterlassen, nicht auf sie angewiesen zu sein.
- Assessments müssen durch Fachpersonen unterstützt und begleitet werden, die sich in die Kandidaten hineinversetzen können und tatsächlich etwas von deren Berufsumfeld verstehen.
- Absagen sollen ehrlich sein und begründet werden.
- Stellenausschreibungen müssen realistische Anforderungen beinhalten, die erfüllt werden können.
- HR-Verantwortliche sollten sich die Frage stellen, ob sie ihre Kernkompetenzen tatsächlich aus den Händen geben wollen.
- … und, ganz am Schluss, wobei dieser Grundsatz eigentlich an Nummer eins stehen sollte: Personalfachleute sollten Menschen mögen!
Esther Niffenegger arbeitet heute als Leiterin Einkauf und Logistik bei Energie Wasser Bern.