Doris Dinkel ist auf Stellensuche. Nach ihren ersten zwei Bewerbungen hatte Sie schon einen aussergewöhnlichen Bewerbungsevent besucht und ein Vorstellungsgespräch in der Tasche. Dieses Vorstellungsgespräch findet heute statt.
„Bitte bring deine Kletterschuhe mit und komm sportlich gekleidet“, stand in der Einladung zum Bewerbungstermin. Das gefiel ihr. Endlich einmal ein Arbeitgeber, der ihr sagt, was sie fürs erste Gespräch anziehen soll. Sie wusste natürlich genau, was auf sie zukam: Sie hatte in ihrem Motivationsschreiben für den Kletterausrüstungshersteller erwähnt, dass sie leidenschaftlich gerne klettert.
Bei der Kletterausrüstungsfirma angekommen führt sie die HR-Dame auch direkt in die hauseigene Kletterhalle. Zwei Mitarbeiter standen schon bereit und hatten alles vorbereitet. Sie stellten sich vor. Eine zweite HR-Dame und einer aus der Finanzabteilung, Jonas. „Es geht heute nicht ums Schwitzen oder schwierige Routen. Aber wenn wir schon einmal die Chance haben, eine Kletterin auch im Controlling zu haben, dann wollen wir das auch sehen!“, so die eine HR-Dame. Jonas sicherte Doris und die HR-Damen halfen einander. Doris ging an die Wand, die Route sah einfach aus.
Die zweite Dame vom HR trat an die Route direkt neben ihr: „Wir gehen gemütlich hoch und ich stelle Dir dabei ein paar Fragen.“ „Gut, ich gebe mein Bestes“, erwiderte Doris. Nach den ersten zwei Metern ging es los: „Warum vertraust du darauf, dass Jonas dich richtig sichert?“. Jonas hörte die Frage auch und lachte. Doris stoppte und drehte ihren Kopf nach unten. „Er hat mir direkt das Du angeboten“, sagte Doris verteidigend, „wir haben die Knoten zusammen gemacht und der Sicherheitscheck hat auch funktioniert. Er hat mir den Eindruck der Professionalität von euch bestätigt und ich habe mir keine weiteren Gedanken gemacht.“
„Klingt gut“, sagte die HR-Dame und stieg höher, „Keine Angst, wir haben keine Schreckenssekunde geplant. Die nächste Frage ist etwas schwieriger: Wie viele fixe Haken sind an der Eiger Nordwand?“. Die Eiger Nordwand kennt jeder Kletterer in der Schweiz, auch Doris. Dort war sie aber noch nie. Trotzdem versuchte Doris diese Schätzfrage mithilfe den wenigen Informationen, die sie kannte. Ohne Stift und Papier, ein wenig unter Stress. Es gab noch zwei weitere Fragen, danach war es auch schon vorbei. Sie liessen sich abseilen, und unten kam der kurze Applaus von Jonas und der HR-Dame. Doris verschnaufte, es gab Energieriegel und Wasser. Jonas stellte noch ein paar Fragen und es gab wichtige Informationen zum weiteren Bewerbungsablauf. „Weitere Fragen?“, beendete Jonas seinen kleinen Vortrag. Der Ball lag jetzt wieder bei Doris. Für Doris war jedoch alles klar: „Keine weiteren Fragen.“
Gerne schreibt man bei einer Kletterausrüstungsfirma über seine Kletter-Leidenschaft. Oder bei einer Sensorfabrik, man sei technikbegeistert. Doris Interviewort war aussergewöhnlich, die Fragen knifflig. Dies hatte mehrere Gründe: Doris musste ihre Leidenschaft unter Beweis stellen. Ihr logisches Denken, ihre Argumentationstechnik, der Umgang mit Zahlen und die Herangehensweise an ein unlösbares Problem wurden getestet. Die Floskelfragen in einem Standard-Bewerbungsgespräch blieben weg. Und schliesslich erlaubte es die Stresssituation der HR Dame, die Persönlichkeit von Doris sehr schnell einzuschätzen. Jonas konnte zudem direkt ein gewisses Vertrauen zu Doris herstellen.
Christoph Jordi ist Gründer und CEO von DoD!fferent und schreibt hier einmal pro Monat als Gastautor. DoD!fferent bietet agile Strategieberatung mit Fokus auf Employer Branding. Jordi doziert zudem am Schweizerischen Institut für Betriebsökonomie und führt dort den Cert. Employer Branding Expert Lehrgang durch.