Grosser Mund gleich grosse Klappe? Grosse Ohren gleich guter Zuhörer? Lange Nase gleich Schnüffler? Ich wollte es besser wissen! Und habe mich mit einem Experten der Physiognomik getroffen: Christoph Stelzhammer.
Christoph, wie bist du zur Physiognomik gekommen?
Durch einen Vortrag zum Thema „Gesichterlesen“. Ich war damals Personalleiter und dachte mir: „Wow, wenn das tatsächlich funktioniert, dann könnte ich diese Technik in meiner täglichen Arbeit einsetzen.“ Ich habe danach einen Wochenendkurs belegt, um zu entscheiden, ob ich in eine umfassende Ausbildung investieren soll. Der Kurs hatte mich überzeugt.
Wie lange hat es gedauert, bis du die erworbenen Fähigkeiten gut anwenden konntest?
Das dauerte etwa ein Jahr. Wobei ich die praktische Menschenkenntnis die ersten vier Jahre sehr kritisch hinterfragt und immer wieder überprüft habe. Bei jedem Interview habe ich mir Notizen zu den physiognomischen Merkmalen des Kandidaten gemacht. Nach dem Gespräch habe ich überprüft, ob meine Notizen mit meiner Einschätzung übereinstimmten. Was sie tatsächlich getan haben ;-).
Hattest du keine Mühe, das Gespräch zu führen und gleichzeitig das Konterfei deines Gegenübers zu studieren?
Ich habe die ersten Minuten genutzt, in denen der Kandidat über sich erzählt. Zudem habe ich jeder physiognomischen Bedeutung ein Kürzel gegeben; so war ich relativ schnell. Heute brauche ich nur noch maximal eine Minute, um mir ein Bild zu machen.
Ist diese Methode nicht umstritten?
Wie jedes Wissen kann man auch das der Physiognomik missbrauchen – was man in der Geschichte auch getan hatte. Wenn man es allerdings richtig anwendet, ist es ein wertvolles Instrument, das die Menschen nicht schubladisiert – das gefällt mir so daran. Auch bei anderen gängigen Methoden wie z.B. dem DISG-Modell besteht die Gefahr der Schubladisierung. Die Physiognomik hilft mir, mein Bauchgefühl in Worte zu fassen.
Wie wendest du die Methode konkret an?
Habe ich mir einen Überblick über die verschiedenen Gesichtspunkte verschafft, frage ich bei den Punkten nach, die mir auffallen. So gebe ich meinem Gegenüber die Möglichkeit, auf meinen Eindruck zu reagieren. Ich nenne das „Prove yourself wrong“. Also seinen Eindruck immer kritisch hinterfragen und dem Kandidaten bzw. dem Gesprächspartner die Chance geben, das Gegenteil zu beweisen. Das ist ein Grundsatz in meinen Interviews.
So, jetzt möchte ich aber Konkretes wissen. Gibst du mir die wichtigsten Tipps, die ich als Laie einfach erfassen und anwenden kann?
Ganz wichtig ist, dass man nicht einzelne Merkmale herauspickt und sich so ein Urteil bildet. Dieses Halbwissen ist gefährlich. Das Gesicht muss als Ganzes angesehen werden. Zum Beispiel lässt ein eingewachsenes Ohrläppchen alleine noch nicht auf Rücksichtslosigkeit schliessen; es kommt darauf an, was mir das Gesicht sonst noch zeigt. Die Summe dieser einzelnen Merkmale muss ich dann verbinden. So plakativ sich einzelne Merkmale auch „verkaufen“ lassen – man darf die praktische Menschenkenntnis nicht banalisieren.
Im Bewusstsein der Notwendigkeit eines vollständigen Bildes, gebe ich dir gerne ein paar Beispiele:
Funktioniert das auch auf Fotos?
Das ist schwierig. Es sei denn, die Aufnahmen sind für diesen Zweck gemacht worden. Ansonsten kann der Winkel täuschen, Ohren und Stirn sind verdeckt etc.
Einer der Punkte in deinem Training lautet: „Ohne Vorurteile ins Gespräch gehen“. Mit der Anwendung der Physiognomik machst du doch gerade das Gegenteil!?
Hat man nicht sowieso immer Vorurteile? Mit diesem Instrument kann ich den Vorurteilen auf den Grund gehen, weil ich sie mir bewusst mache.
Hast du dich auch schon richtig getäuscht?
Ich bin einmal reingefallen. Wir wollten eine Führungsposition besetzen. Mit unserer Favoritin hatten wir mehrere Interviews durchgeführt, gemeinsame Mittagessen organisiert, das Team involviert. Alle waren überzeugt. Mir fielen allerdings Merkmale auf, die mich zweifeln liessen. War sie dieser Aufgabe – es war ihre erste Führungsposition – wirklich gewachsen? Der schmale Nasenrücken, die kantige Nasenspitze, das kurze Philtrum deuteten darauf hin, dass sie mit vielen Themen aufs Mal nicht klar kommt, sie eines nach dem anderen erledigen möchte und dass sie einen tiefen Dominanzanspruch hat. Das war für diese Position nicht günstig. Die Kandidatin wurde aber eingestellt und nach einem Jahr hat sie uns unter Tränen gestanden, dass sie dem Druck nicht gewachsen sei. Ich hatte dem Wissen damals schlicht zu wenig vertraut.
Über Christoph Stelzhammer
Christoph Stelzhammer hatte verschiedene Managementpositionen im Verkauf und Personalwesen inne. Unter anderem war er Personalleiter bei der Hilti (Schweiz) AG. Seit Januar 2011 ist er selbstständig tätig als Spezialist für individuelle Verkaufstrainings und Personalvermittlung.