Glauben Sie es mir: Sie werden abgeworben. Schon bald. In der Schweiz liegt die Arbeitslosigkeit auf rekordtiefen 3.2%. Das ist schön für Arbeitnehmer. Aus Sicht der Recruiter ist es aber ein Riesenproblem; und ganz oben auf ihrem Sorgenbarometer steht denn auch überdeutlich der „War for Talents“.
Der alles dominierende Fachkräftemangel zwingt Unternehmen – egal, ob grosse Firmen oder KMU – zur Direktansprache (euphemistisch für ‚Abwerben‘) von Kandidaten. Daran kommt heute niemand mehr vorbei. Trotzdem sprechen viele gar nicht gerne darüber. Das ist falsch: Wir finden, Unternehmen sollten diese Diskussion offen angehen und ihr den Raum geben, der ihr zusteht, und zwar nicht nur in den HR-Abteilungen.
Neben einer vertieften Debatte rund um die ‚grossen‘ Fragen wie „Wie loyal ist ein Mitarbeitender, der sich abwerben lässt?“ oder „Entspricht Direct Recruiting unseren Standesregeln? Handeln wir noch moralisch“, die an anderer Stelle diskutiert werden sollen, geht es doch vor allem ganz praktisch um Lerneffekte.
Wie macht man es richtig? Welche Tools braucht es? Welche Tricks muss man sich aneignen? Braucht es dazu externe Spezialisten? Speziell zu dieser letzten Frage lohnt sich ein Blick auf die Diskussion, die an unserem Praxispodium an der Personal Swiss geführt wurde.
Professionell muss die Direktansprache auf jeden Fall aufgesetzt sein, keine Frage. Ob inhouse oder extern spielt aber wahrscheinlich eine eher untergeordnete Rolle. Die zentralen Faktoren sind eher:
- Das Commitment des Managements, dieses Tool einsetzen zu wollen und die notwendigen Ressourcen bereitzustellen. Das ist die absolute Basisbedingung.
- Der Aufbau eines echten, tragfähigen Beziehungsnetzes. Die HR-Abteilung muss seine Pappenheimer kennen, und zwar nicht erst, wenn diese „auf Stellensuche“ in ihr XING-Profil schreiben. Recruiter müssen ständig und proaktiv an ihrem Netzwerk arbeiten und überall ihre Ohren gut spitzen. Sie müssen Teil der für sie wichtigen Communities werden – ob on- oder offline – und sich dort aktiv engagieren, an Diskussionen teilnehmen, eine erkennbare Stimme sein.
Businessnetzwerke wie XING können dabei ihren Anteil leisten und praktische Unterstützung bieten; viele Leute geben auf ihren Profilen wichtige Informationen preis. Zentral ist aber der Aufbau der persönlichen Kontakte – und zwar schon im Vorfeld des eigentlichen Rekrutierungsprozesses, dann fällt schliesslich auch die Direktansprache leichter.
Dazu arbeitet der Recruiter in den meisten Fällen am besten eng mit den Linien zusammen, denn die kennt ihre Branche, ihre Konkurrenten, mögliche Kandidaten und ihre eigenen Bedürfnisse. - Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Fähigkeit, überhaupt den richtigen Zeitpunkt zu erkennen, um potenzielle Kandidaten anzusprechen. Erste Hinweise, dass sich jemand eventuell ‚neu orientieren‘ möchte sind:
- Die ‚Zielperson‘ ist Teil eines Teams, das gerade ein Projekt abgeschlossen hat
- Der Wunschkandidat hat gerade eine Ausbildung beendet
- Die Probezeit ist abgelaufen
- Die berühmt-berüchtigten 3 Jahre sind um
- Dem Arbeitgeber läuft es nicht rund
- Aktuelle ‚verräterische‘ Einträge auf Social Media-Profilen
- Eine beiläufige Empfehlung aus dem Markt
- … etc..
Erfahrene Recruiter haben natürlich so ihre Tricks – und verraten sie selbstverständlich nicht gerne.Schlussendlich ist eine ‚kalte‘ Akquise immer wesentlich schwieriger als eine warme. Nicht selten ist beim ‚kalten Recruiting‘ nämlich schon bei der Telefonzentrale Schluss.
- Best Practices, ein eigener Methodenmix und die Fähigkeit zu erkennen, welcher Weg für welchen Kandidaten die kleinsten Hürden darstellt sind eines jeden Direct Recruiters hohe Schule.
Die 1926 von Thorndike Deland Associates erfundene Direktsuche ist also auch 2013 noch mehr oder weniger am selben Ort: Nicht das reaktive Warten auf Bewerbungen bringt die geeigneten Kandidaten, sondern das aktive Ansprechen von den besten Leuten. Und die besten findet man nur durch Recherche, Recherche, Recherche – und ein sorgfältig aufgebautes und gepflegtes persönliches Netzwerk. Das ist heute einfacher denn je.
Oder? Wie gehen Sie bei der Direktansprache vor? Und im Vorfeld? Welche Methoden sind die erfolgversprechendsten?
Ich freue mich auf die Diskussion.
Michel Kaufmann ist im Verwaltungsrat der JobCloud. Von 2001 bis 2014 engagierte er sich mit Aufgaben im Product Management, der IT und dem Marketing für den Ausbau des Stellenportals und der Marke jobs.ch. Seine langjährigen Erfahrungen in der Online Rekrutierung und dem Markenaufbau bilden den Hintergrund für seine Artikel in diesem Blog.