Doris Dinkel und die Röntgenstrahlenattacke

Seit ihrem letzten Streich, dem virtuellen Firmenrundgang bei dem Sanitäranagenhersteller Selon, war Doris sehr aktiv auf Meerkat. Sie hatte sich gerade eingeloggt und schaute sich ein Video einer Finanztagung in Berlin an. Sie tippte ihre dritte Frage ein, als ihr Handy klingelte.
Doris Dinkel und die Roentgenstrahlenattacke

„Dinkel“ meldete sich Doris. „Hallo Doris, hier spricht Jolanda Bertschinger von Transol. Wir kennen uns von der Bewerbungsparty. Die anderen Finanzler und ich fanden dich sehr sympathisch und darum möchte ich dich gerne zu einem zweiten Gespräch einladen“, erklärte Jolanda Bertschinger. Doris musste kurz überlegen: Die Bewerbungsparty bei der Transportfirma Transol war bereits einige Wochen her. Sie hätte nicht gedacht, dass sie noch etwas hören würde. „Hallo Jolanda“ antwortete Doris, „schön von dir zu hören.“ Jolanda fand das auch und sie vereinbarten ein zweites, „richtiges“ Vorstellungsgespräch unter vier Augen.
Am Tag des zweiten Gesprächs war Doris bereits 15 Minuten zu früh bei der Transol. Sie wartete im schicken Vorzimmer, bis Jolanda sie pünktlich auf die Minute in Empfang nahm. Sie zogen sich in ein kleines Sitzungszimmer zurück – nicht in den Festsaal, wie bei der Bewerbungsparty. Jolanda hatte eine volle Ledermappe dabei. Nach dem lockeren ersten Kennenlernen wirkte das ungewohnt. Zuoberst lag Doris‘ Lebenslauf. Darunter befand sich ein Stapel weiterer Papiere. Jolanda fing an, darin zu blättern und fragte mit ruhiger Stimme: „Auf Xing habe ich gesehen, dass du mit Joshua Blattner befreundet bist. Wusstest du, dass er hier gearbeitet hat?“ Nun war Doris komplett verwirrt. Auf so eine konkrete Frage war sie nicht gefasst. „Ähm, nein das wusste ich nicht. Ich kenne Blattner nicht sehr gut. Wir sind nicht einmal per Du. Wenn ich mich recht erinnere, hatten wir die gleiche Tagung besucht. Aber da waren sehr viele Leute.“ antwortete Doris vorsichtig. Sie hatte kein gutes Gefühl bei dieser Frage. „Hmm ok“, sagte Jolanda, „Die offene Stelle war während der letzten fünf Jahre von Joshua besetzt gewesen. Und da ihr befreundet seid, dachte ich, du wüsstest das“ erklärte sie weiter. Doris nickte leicht, sagte aber nichts mehr dazu. Jolanda blätterte weiter: „Auf Facebook habe ich gesehen, dass du eine ziemlich erfahrene Kletterin bist. Wusstest du, dass wir bei Transol ein vergünstigtes Abo für die Kletterhalle kaufen können?“ Doris huschte ein Lächeln über die Lippen. „Nein, das habe ich nirgends gelesen. Klettern denn viele bei Transol?“ fragte Doris zurück. „Das steht auch nicht bei unseren Benefits. Ja es klettern schon ziemlich viele, ich selbst habe auch ein Abo und gehe jeden Dienstag- und Donnerstagmittag klettern.“ sagte Jolanda. Dann fragte sie, wieder in dem ruhigen Ton, in dem sie bereits die erste Frage gestellt hatte: „Auf LinkedIn habe ich gesehen, dass du bis im April vergangenen Jahres bei deinem alten Arbeitgeber angestellt warst. In deinem Lebenslauf steht aber, dass du bis Juli dort warst. Das hat mich ein wenig verwirrt.“ Nach der angenehmen Kletterfrage fühlte sich Doris nun schon wieder überrumpelt. Diese Art der Befragung war ihr unangenehm. Sie hatte das Gefühl, als ob ihr ganzes Leben von Doktor Jolanda und ihren Röntgenstrahlen durchleuchtet wurde. „Nun“ sagte Doris. „Da hab ich mir noch drei Monate Party auf Ibiza gegönnt, bevor das Baby kam.“ Jolanda blickte von ihren Papieren auf und musterte sie verwirrt. Doris prustete los und sagte: „Das war nur ein Scherz. Da muss mir wohl ein Fehler auf LinkedIn unterlaufen sein. Ich habe im April gekündigt und dann hatte ich noch eine dreimonatige Frist. Das war aber auch so abgesprochen mit meinem damaligen Arbeitgeber. Sie wussten von Anfang an von der Schwangerschaft und wir haben schon im Winter besprochen, dass wir es so machen werden.“ Jolanda hob eine Augenbraue und sagte: „Aha.“ Doris hatte nicht das Gefühl, dass ihr Witz gut angekommen sei. Jolanda schrieb wieder etwas auf ein Blatt in ihrer Mappe und blätterte schliesslich weiter. „Ich habe noch eine letzte Frage Doris: Warum willst du nicht zurück zu deinem alten Arbeitgeber?“ Auf diese Frage war Doris ausnahmsweise vorbereitet. Darüber war sie so glücklich, dass ihr fast noch ein Witz über die Lippen kam. „Hast du das nicht schon auf Twitter gelesen?“, sagte sie beinahe mit einem Augenzwinkern, konnte sich aber gerade noch bremsen. Doris antwortete artig: „Ich suche nach vier Jahren beim gleichen Arbeitgeber und in der gleichen Abteilung eine neue Herausforderung.“ Damit schien Jolanda zufrieden, kritzelte schnell etwas in ihre Mappe und schloss diese dann. „Puh“, dachte Doris, „endlich ist das Verhör vorbei.“ Beide Frauen standen auf, schüttelten sich die Hände und verabschiedeten sich. „Ich melde mich bei dir Doris“ sagte Jolanda, als sie das Sitzungszimmer verliessen. „Bitte nicht“, dachte Doris und antwortete: „Ich freue mich schon.“
Es ist üblich, dass Bewerber sowie Arbeitgeber sich vor einem persönlichen Treffen im Internet übereinander informieren. Diese Informationen können ein persönliches und unvoreingenommenes Kennenlernen nicht ersetzen. Die im Internet gesammelten Informationen sind fragmentarisch und sollten als Zusatzinformationen verwendet werden und nicht das gesamte Gespräch leiten. Ansonsten kann es so laufen wie bei Doris und Jolanda: Das „Kennenlernen“ wird zu einem Verhör, in dem nur Stellungnahmen zu bereits bekannten Tatsachen abgefragt werden.
Christoph Jordi ist Gründer und CEO von DoD!fferent und schreibt hier einmal pro Monat als Gastautor. DoD!fferent bietet agile Strategieberatung mit Fokus auf Employer Branding. Jordi doziert zudem am Schweizerischen Institut für Betriebsökonomie und führt dort den Cert. Employer Branding Expert Lehrgang durch.

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